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10.01.2019

War­um wir wie­der mehr debat­tie­ren sollten

Heute schon gestritten? In Deutschland rühmen wir uns unserer „Streitkultur“. Jeder wird angehört, alle Meinungen berücksichtigt, am Ende halten sich alle an das Resultat. Wichtig war dabei immer: Ja, ich habe eine starke Meinung. Ich spreche dem anderen aber nicht ab, eine abweichende zu haben.

Das scheint vorbei zu sein – jedenfalls, wenn wir die Zahl an Hasskommentaren und Pöbeleien in sozialen Netzwerken als Spiegel unserer Gesellschaft akzeptieren. Völlig harmlose Fragen in Sachen Kindererziehung werden abgestraft mit „Du bist eine schlechte Mutter“, Bitten um Ernährungstipps erhalten Kommentare wie „Geh in die Suchtklinik oder schlag dich, wenn du Süßes willst“.

WIE KONNTE ES SO WEIT KOMMEN?

Streitkultur hat eine lange Tradition. Bei den alten Griechen konnte jeder vor einem Geschworenengericht Anklage gegen eine andere Person erheben. Die hatte sich dann öffentlich zu verteidigen – weshalb sich alle fit machten für so einen Fall und übten, übten, übten. Die Rhetorik entstand. Schnell gab es Berufsredner, die für den Angeklagten sprachen. Im stark von der griechischen Kultur beeinflussten Römischen Reich wurde das offizielle Streiten weiter professionalisiert. Der römische Staatsmann Cato (234-149 v. Chr.) war dann schon der erste schlimme Finger der Streitkultur, er war oft beleidigend und kompromisslos („Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Karthago zerstört werden muss“). Das brachte ihm 44 Anklagen ein. Jedes Mal verteidigte er sich selbst und wurde freigesprochen. Ob er wohl Facebook mögen würde?

DEBATTIEREN KÖNNEN WIR LERNEN

Zuerst einmal müssen wir zwischen Streit, Diskussion und Debatte unterscheiden. Debatte leitet sich vom Französischen ab, „débattre“ heißt (nieder-)schlagen. Schlagen? Das klingt brutal, ist es aber nicht. Im Unterschied zu einer Diskussion und einem Streitgespräch folgt die Debatte formalen Regeln und dient in der Regel der inhaltlichen Vorbereitung einer Abstimmung. Eine Kontroverse ist eine langanhaltende Debatte.

Fest steht: Wer sinnvoll diskutieren will, muss es lernen. England ist das Mutterland der Debattierclubs, dort wurden die Grundlagen des Debattierens schon vor Jahrhunderten entwickelt. 1815 startete der erste Debattierclub an der University of Cambridge. Hier und in Amerika erlebten Highschools und Colleges in den 1920er- und 1930er-Jahren eine Hochzeit der Debattierwettbewerbe. Sie wurden zwischen Schulen oder Hochschulen lokal, national oder sogar international ausgeführt.

Aber auch in Deutschland ist Debattieren inzwischen wieder angekommen. Über 70 Debattierclubs nehmen sich überall im Land heißer Themen an.

Meist sind es Studierende, die sich in Debattierclubs engagieren. Der Vorteil: Sie üben sich in Rhetorik, aber auch darin, gut zuzuhören. Außerdem machen sie sich fit darin, ohne lange Vorbereitung vor einem großen Publikum zu sprechen. Und bei hitzigen Diskussionen auch mal ruhig zu bleiben. Alles Qualitäten und Social Skills, die immer mehr Firmen zu schätzen wissen und schon mal in Vorstellungsgesprächen prüfen. Auf den Websites der Debattierclubs kann sich jeder über die aktuellen Themen informieren – und mitmachen!

WAS KANN ICH TUN?

Üben wir uns also in Perspektivwechsel, ins Einfühlen in die andere Seite. Üben wir, kreative Lösungen zu finden, die auch andere OK finden können. Gehen wir aber auch konsequent gegen schlechtes Streitverhalten vor! Unhöflichkeit, Beschimpfungen, Verleumdungen, Halbwahrheiten, Fake News: Sie alle sind Gegner einer guten Streitkultur. Von den Debattierclubs können wir lernen, sie zu identifizieren, selbst zu vermeiden und zu bekämpfen. Und behalten wir immer im Gedächtnis: Nur in Diktaturen und autokratischen Systemen wird Streit als Schwächung der Gesellschaft und destabilisierend angesehen.