Menü Schließen
04.06.2018

Der gro­ße Gadget-Knigge

Es ist die große Herausforderung des modernen Menschen, wenn er sich in Gesellschaft befindet: Wie nutzen wir alle die neuen Gadgets, ohne unser Gegenüber zu stören? Was irritiert uns selbst bei anderen? Die Freundin, deren Blick immer aufs Handydisplay wandert, während wir mit ihr sprechen? Der Kollege, der sein Bluetooth-Headset nie abnimmt? Ist es OK, in einer Runde von Freunden das Smartphone zu benutzen oder eine E-Zigarette zu rauchen? Woran kann ich mich orientieren?

Viele Fragen – da ist es gut, sich auf das Standardwerk zum Thema Rücksicht zu besinnen: Adolph Freiherr von Knigges „Über den Umgang mit Menschen“ von 1788. Anders als oft geschrieben, geht es in dem Buch nicht um Tischmanieren oder Gentleman-Regeln.

Nein, es geht um Rücksicht: Wie treten wir seriös in Gesellschaft auf und machen dabei eine gute Figur, ohne jemand anderem auf den Schlips zu treten. Die drei wichtigsten Tipps – und ihre moderne Interpretation.

DIE KLEIDUNG

„Zeichne dich weder durch altväterische noch neumodische Torheit nachahmende Kleidung aus. Wende einige größere Aufmerksamkeit auf deinen Anzug, wenn du in der großen Welt erscheinen willst.“

Hätten das nur die Erfinder von Google Glass gelesen, der Datenbrille, die 2014 an den Köpfen von Hardware-begeisterten Software-Designern und Medienleuten zu sehen war. Technisch war das Augmented-Reality-Produkt toll, optisch zu angeberisch und störend für die Umwelt. Wer will sich schon mit jemandem unterhalten, dessen Pupillen ständig zu einen Mini-Monitor vor seinem Auge wandern? 2015 kam der Verkaufsstopp.

Eine „neumodische Torheit“ sind auch Bluetooth-Headsets. Klar, die Nutzer haben die Hände frei beim Telefonieren, sicher praktisch im Business. Trotzdem haben sie es nie geschafft, als stilvolle Accessoires akzeptiert zu werden. Winzige In-Ear-Kopfhörer bieten heute eine intelligentere Lösung.

Ähnlich geht es den Gürtelhaltern für Smartphones. In Deutschland kaum verbreitet, sind die Handy-Holster in den USA populär bei Autohändlern und Versicherungsvertretern. Das mag daran liegen, dass Amerikaner eher weite Anzüge tragen, unter denen die Handys am Gürtel nicht auffallen. Für Europäer mit ihren eng geschnitten Anzügen nach italienischem Vorbild ist das keine gute Lösung. Zum Glück verfügen fast alle moderne Anzüge heute über spezielle Innentaschen im Futter in Hüfthöhe, in denen die meisten Smartphones gut untergebracht werden können. So verstaut, wird eine zusätzliche Regel aus Knigges Werk berücksichtigt: „Bewahre deine Papiere, deine Schlüssel und alles so, dass du jedes einzelne Stück auch noch im Dunkeln finden kannst.“

Völlig akzeptiert, da recht unauffällig: Fitness-Armbänder, die Herzfrequenz und Laufdistanz messen und so helfen, die eigene Gesundheit in den Griff zu bekommen. Grundsätzlich gilt aber auch hier: Die Zahl der digitalen Helfer, die man mit sich herumschleppt, muss überschaubar sein, denn schon Knigge wusste: „Je mehr Dienstboten man hat, desto schlechter wird man bedient.“

DIE GESELLSCHAFT

„Die Kunst des Umgangs mit Menschen besteht darin, sich geltend zu machen, ohne andere unerlaubt zurückzudrängen.“

Seit Langem ist es klar definiert, wie nahe sich Menschen kommen dürfen, ohne in die Intimsphäre des anderen einzudringen. Man unterscheidet zwischen „Intime Distanz“ (0-60 cm, Eindringen nur mit besonderer Erlaubnis), „Persönliche Distanz“ (60-150 cm, normale Gesprächsdistanz), „Gesellschaftliche Distanz“ (1,50-4 m, Unterhaltung mit Geschäftspartnern) und „Öffentliche Distanz“ (ab 4 m, Lehrer vor Klasse, Zuschauer zu Schauspielern). In der modernen Welt werden diese Regeln oft gebrochen. Die Enge in U-Bahnen, das laute Telefonieren mit Smartphones, das Rauchen an öffentlichen Orten: All das führt dazu, dass neue Distanz-Regeln nötig sind: Das Handy beim persönlichen Gespräch nicht auf den Tisch legen, höchstens verdeckt. Rücksicht auf andere beim lauten Telefonieren. Rauchzonen einhalten. Handykamera nicht ungefragt auf fremde Menschen richten.

Ein Neuzugang, bei dem uns Knigge helfen kann: E-Zigaretten. Es gibt in Deutschland und auch in anderen Ländern viele Orte, an denen sie genutzt werden können. Udo Lindenberg dampft in Konzertsälen genauso wie Leondardo DiCaprio bei den Golden Globes. Bella Hadid, Daniel Brühl und Carla Bruni nutzen bei Interviews E-Zigaretten, um sich zu entspannen.

Nach allen bisherigen Studien ist der Dampf, der von ihnen ausgestoßen wird, harmlos. Gleichzeitig sind die Dampfwolken hier manchmal so ausufernd, dass Menschen sich belästigt fühlen. Eingesetzte Aromen können andere stören. Und in der Nähe von Kindern und Jugendlichen haben sie sowieso nichts zu suchen. Es gilt frei nach Knigge: Rücksichtnahme ist das A und O. Eine einfache Frage kann Wunder bewirken – und sogar eine interessierte Diskussion über das neue Gerät anstoßen.

DIE FREIHEIT

„Da jedes Menschen Glückseligkeit in seinen Begriffen von Glückseligkeit ruht, so ist es grausam, irgendeinen zwingen zu wollen, gegen seinen Willen glücklich zu sein.“

Vieles sieht nicht gut aus, was heute mit Gadgets getrieben wird. Man nehme nur die seltsame Unsitte, das Handy wie einen Schokoriegel waagerecht vor den Mund zu halten, um eine Sprachnachricht aufzunehmen. Folgen wir aber Knigge und spielen wir uns nicht als Stil-Polizei auf: Dem Freiherrn ging es darum, kleinkarierte Etikette hinter sich zu lassen, nicht neue einzuführen. Er wollte das beschreiben, was die Franzosen „Esprit de conduite“ nennen, die Kunst des Umgangs mit Menschen. Und das mit möglichst wenig Einschränkungen, schließlich war er ein Verfechter der Aufklärung. Seine freiheitlichen Thesen waren so stark, dass sein Werk zwar sofort ein Erfolg wurde, fast aber auch auf den Index der verbotenen Bücher des Vatikans landete.

Wer also Gadgets wie teuren Schmuck als Statussymbol vor anderen spazieren trägt, soll das ruhig tun. Entscheidungsfreiheit kommt vor Stilregeln. Und man kann es nicht jedem recht machen, schon gar nicht in einem so vielfältigen Land wie Deutschland. Schließlich gilt auch ein Zitat von Knigge, das schon im Vorspann seines Standardwerkes heraussticht: „In keinem Lande in Europa ist es vielleicht so schwer, im Umgange mit Menschen allgemeinen Beifall einzuernten als in unserem deutschen Vaterlande. Nirgends herrscht eine so große Mannigfaltigkeit der Meinungen.“